Kritik der Urteilskraft
Urteilskraft – Reflexion und Gemeinsinn
Vernunft wird als reine, theoretisch „dialektisch“, d.h. im Kantischen Sprachgebrauch mit sich selbst uneinstimmig und scheinbehaftet in ihren Geltungsbegründungen, das sie „über Gegenstände“ etwas „a priori“ auszumachen sucht. (KrV B 170) Alle Gegenstandsformen aber sind, so weist Kant in der Elementarlehre nach, auf durch sinnliche Wahrnehmung unter Raum-Zeit-Verhältnissen bestimmbare Erfahrungserkenntnisse bezogen.
Auch in der erfahrungsbedingten Gegenstandserkenntnis wird Urteilskraft gebraucht, um Regeln des der Objektivität fähigen Verstandes anzuwenden und Erfahrungsurteile über erscheinende Gegenstände schon den Bedingungen ihrer Möglichkeit nach auszubilden.
„Die Analytik der Grundsätze wird demnach lediglich ein Kanon für die Urtheilskraft sein, der sie lehrt, die Verstandesbegriffe, welche die Bedingung zu Regeln a priori enthalten, auf Erscheinungen anzuwenden.“ (B 171)
Die für die Leitung des erfahrungsbildend urteilenden Verstandes zu entdeckenden Grundsätze der Urteilskraft stellen eine transzendentale, reflektierende Erkenntnis in der Bedingungseinsicht des empirischen Gebrauchs von Funktionsregeln des urteilenden Verstandes dar, in dessen beurteilendem Gebrauch die Urteilskraft zwar bestimmend fungiert, aber ein reflektierendes, Form- und Funktionsbedingungen zu erkennen gebendes Vermögen einbezieht.
Die für den Verstandesgebrauch im Urteilen maßgeblich bestimmende Urteilskraft ist also nicht abstrakt (generalisierend) der reflektierenden Urteilskraft entgegengesetzt. Die Analytik der Grundsätze verlangt (in ihrer „Doktrin“) vielmehr eine einteilende Unterscheidung auch von Arten der Reflexion und ihrer Einteilungserkenntnis von Bedingungen der Vermögen (für die Kritik der Vermögen leitenden Unterscheidung) von Verstand, Vernunft und Urteilskraft.
Darum ist die von Kant mitgeteilte Unterscheidung der bestimmenden von der reflektierenden Urteilskraft, daß die bestimmende das Allgemeine einer Regel auf das Besondere (der anschauungsbedingten Erscheinung möglicher Gegenstände) anwende, während die reflektierende das Allgemeine zu einem Besonderen des Gegebenen suchte, nicht ausreichend, bewegte sich noch ganz verstandesbezogen im Verhältnis der Urteilsfunktionen von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem.
Die reflektierende Urteilskraft läßt sich aber für ihre Aufgabenbestimmung nicht auf die Teihabe an der Entdeckung von Naturgesetzen oder von in ihrer Geltungsform den Gegenstandsverhaltensgesetzen ähnlichen / analogen Gesetzmäßigkeiten einschränken. Die logischen Funktionen des urteilenden Verstandes sind ursprünglich auf das Kategoriale der Gegenstandskonstitution für das Selbstbewußtseins in der Bildung von Erfahrungserkenntnis bezogen, während die Bedingungsreflexion von Vermögen eine Urteilskraft zu Bewußtsein bringt, die mit den aufgegebenen Einteilungen die Kritik der Vermögen umwillen ihrer Selbstgemäßheit und Zusammenstimmung bewerkstelligt, ohne das Maß nur an einem der verhaltensleitenden Vermögen (wie oben an den Objektivitätskriterien der Verstandeserkenntnis)
Für die Teilhabe der Urteilskraft an der urteils- und verstandesgemäßen Konstitution von Gegenstandsbewußtsein (in Ausrichtung der Haltung auf Objektivität der Erkenntnis) ergibt sich als Eigenart der dies Verstandesbedingungen zu erkennen gebenden Grundsätze der Urteilskraft, „daß sie außer der Regel (oder vielmehr der allgemeinen Bedingung zu Regeln), die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden sollen.“ (B 174/175).
B171 Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumiren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urtheilskraft und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntniß abstrahirt: so bleibt ihr nichts übrig als das Geschäfte, die bloße Form der Erkenntniß in Begriffen, Urtheilen || und Schlüssen analytisch aus |
B172 einander zu setzen und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumiren, d.i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urtheilskraft; und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urtheilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Specifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann
Dieses ist auch der einige und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urtheilskraft schärfen.
So sind Beispiele der | B174 Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derjenige, dem es am natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann. ||
Ob nun aber gleich die allgemeine Logik der Urtheilskraft keine Vorschriften geben kann, so ist es doch mit der transscendentalen ganz anders bewandt, so gar daß es scheint, die letztere habe es zu ihrem eigentlichen Geschäfte, die Urtheilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern.
Die reflektierende Urteilskraft bildet ihre den verschiedenen Vermögen (auch der Erkenntnisarten) angemessenen Grundsätze zur Leitung ihrer Ausübung durch die Auffindung des Angemessenen und läßt sich mit der (notwendig reflexiven) Einteilung der Vermögen von deren Maß leiten, das sie nur in Zusammenwirkung mit diesen in der schon angenommenen Ausübung finden und diesen mitgeben kann: es muß also ein antizipatives und berichtigendes Teilhaben an einem Verhalten sein, das seine Selbstgemäßheit zur Bedingung aht und zwar dort, wo es sich auch verfehlen kann, also auf eine Maßannahme aus Maßfindung zur Angemessenheit (in Entsprechung) angewiesen ist.
Die von Kant herausgestellte Übung (zur Bildung der Urteilskraft) wird damit von der Disziplin der rechten Einteilung in Verbindung mit der unterscheidungswahrenden Begriffsbestimmung mitgetragen, die die Identität der Vermögen unter ihren durch Zusammenstimmung der Ausübung bedingten Einstimmung im Blick hat (und als notwendig zu berücksichtigen – selbstverpflichtend und maßgebend verpflichtend – erkennt).
Die Übung und die (sprach-)gemeinschaftliche Bildung von Mutterwitz wird also mitgestaltet durch eine verpflichtende Disziplin nach Kriterien des Angemessenen der Anwendung, in der eine Einstimmungsfähige Maßerkenntnis für ein jedes sich ausbildet, das geeignet und fähige ist, das Seinige zu tun, das darum nie nur für es selbst, sondern mit der gemeinschaftlichen Urteilskraft als Gemeinsinn von allen teilhabenden teilnehmende erkannt wird und die wechselseitige Rücksicht in Ermöglichung von Vermögen leitet.
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Kant macht zurecht darauf aufmerksam, dass für die Anwendung von Gesetzen (auf die die Gesetzgebung von vornherein Rücksicht zu nehmen hat), nicht wiederum nur Gesetze leitend sein können. Die erforderte rechtsprechende Urteilskraft muß in ihrer Gesetzesbindung zugleich Kriterien (der Gesetzesanwendung) in Anspruch nehmen, deren Bedingungen rückstrahlen auf die vernünftige Urteilsikraft der gesetzegebenden Vernunft selbst – also die Teilhabe der reflektierneden Urteilskraft für die Findung von Gesetzen.
Die gesetzgebende Vernunft greift darum als für sie maßgebliche Bedingungen Kriterien der Gesetzesanwendung auf, die die gemeinschaftliche Befolgung gegebener Gesetze als rechtsprechend angewandt und die Zusammenstimmung der Beurteilung als gut und recht – d.i. sittlich (in der Gesetzgebungsentscheidung kriteriell) berücksichtigen.
Allgemein und damit für die Grundsatzbildung der erforderlichen Reflexion der (Maß und Kriterien ausbildenden) Urteilskrafterkenntnis entscheidend ist die Rücksicht auf alle teilhabenden Vermögen, die in den Bedingungen ihrer Selbstangemessenheit ein unbedingt zu beachtendes Maß in die Kriterienerkenntnis eintragen.
Die gesetzgebende Vernunft nimmt diese Erkenntnis in der Formulierung ovn Grundgesetzen a
Kant macht im zitierten Einleitungskapitel zur den Grundsätzen der Transzendentalen Urteilskraft für den Verstandesgebrauch unter Einheitsbedingungen der Gegenstandserfarung zugleich auf die disziplinierende Funktion von Beispielen aufmerksam, kann sich für die begleitende Methodensdisziplin der Einteilung aber für eben die Gegenstandsfunktionen an der Kategorientafel orientieren.
Das ist für die Einteilungsreflexion zur Orientierung der vermögensgemäßen Ausrichtung zur Ausübung von Vermögen aber – wie die Kritik der Vermögen selbst zeigt – nicht generalisierbar und erfordert das an der Identitätsform der Vermögensbegriffe selbst ausgerichtete Einteilungsverfahren. Von ihm als grundlegend her erweist sich die Einteilung von Kategorien- und Urteilsfunktionen als von der Vereinigung von Verstand und Urteil ausgehender, nur für sie spezifisch geltender Einteilungsbestimmung, die in den Grundsätzen der transzendentalen, die Bedingungen der gesetzmäßigen Gegenstandserkenntnis reflektierenden Einheitsbedingungen von Urteilskraft eben aus dem Blick auf die Anschauungsbestimmtheit allererst eine Bestimmung der Kategorien ermöglicht, die in der Tafel nur erst nominell verzeichnet waren.
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Nicht formal, darum ist die Einteilung der reflektierenden Urteilskraft nicht durch das Reflexionsbegriffspaar formal-material strukturierbar.
Sie muß in der Rücksicht auf die Identitätsform der Begriffe von Vermögen zur Erkundung des Angemessenen in der zu ermöglichenden Einstimmung (mit sich und weil teilhabebedingt zugleich untereinander) die materiell differenzierte Bedeutung in die Acht nehmen und das geschieht durch die Aufmerksamkeit der Gedächtnisorte, von denen her sich mit der Unterscheidung aus Teilhabe die Identit#tswahrende Integration mit- und nachvollzogen werden kann – als Bewußtseinsbildung in Annahme und Gabe des Maßes aus Teilhabe in Verantwortung für das es selbst Seinkönnen eines jeden in und aus Gemeinschaft, für die jene Verantwortungsvermögen (aus der Einheit von Vernunft und Urteilskraft) eine zugleich sich teilhabend einordnende Funktion ausüben und das Ihre so tun, dass die Teilhabe des Seinen eines jeden am Gemeinsamen dieses als das Seine eines jeden – im Mitvollzug der Selbstverpflichtung – erzeugt.
Das Seine ist also keine separierende Bestimmung in nur entgegensetzender Unterscheidung, sondern in der Teilhabe wird auch das Gemeinschaftliche zum Seinen eines jeden, dass es überhaupt es selbst in Angemessenheit sein und seine Bestimmung unter Einstimmungsbedingungen (auch in Teilhabe am allen zugehörenden Erkenntnis- und Begriffsvermögen – mit der Selbstwerdung!) erhalten und wahren kann. Darum im Zweck als Vermögen zugleich dienend für das Vermögendsein des Selbstseins in Würde – gehalten durch die Achtungsgemeinschaft, die die Fürsorge für das Selbstseinkönnen trägt.
B 738
Daß das Temperament, imgleichen daß Talente, die sich gern eine freie und uneingeschränkte Bewegung erlauben, (als Einbildungskraft und Witz) in mancher Absicht einer Disciplin bedürfen, wird jedermann leicht zugeben. Daß aber die Vernunft, der es eigentlich obliegt, allen anderen Bestrebungen ihre Disciplin vorzuschreiben, selbst noch eine solche nöthig habe, das mag allerdings befremdlich scheinen;